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Die Bessarabska-Markthalle_Kiew

Mai 22, 2015

In völliger Verkennung der wirklichen Bedürfnisse von Städtereisenden strotzen Reiseführer noch immer von emotionslos aufgelisteten historischen Bauwerken, statt Orte pulsierenden Lebens als „Sehenswürdigkeiten“ zu empfehlen. Alte Industriequartiere, Straßenmärkte, Studentenviertel mit Cafés oder andere Orte schlichten Alltagslebens scheinen nicht der Erwähnung wert, obwohl es meist genau sie sind, die eine Stadt wirklich authentisch und typisch machen. So sind in Kiew neben den als Weltkulturerbe klassifizierten Kirchen- und Klosterkomplexen mit ihren – natürlich sehr sehenswerten – unzähligen grünen und goldenen Kuppeln für einen westeuropäischen Besucher überraschenderweise vielleicht ausgerechnet altmodische Markthallen mit starkem Sanierungsbedarf die attraktivsten „sights to see“. Eine von ihnen, die 1910-12 entstandene 2500 qm große Bessarabska-Markthalle, wird tatsächlich in allen Reiseführern erwähnt, was vielleicht vor allem an ihrer zentralen Lage liegt: am Krestschatyk Boulevard gegenüber des verwaisten Sockels der ehemaligen Lenin-Statue.

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Der ursprüngliche Haupteingang an der Front des Gebäudes mit der Aufschrift Бесарабський ринок (auf dem Plan rechts) ist durch einen der drei ab 2000 eingerichteten Billa-Supermärkte in Kiew, einer österreichischen Kette die zur REWE-Gruppe gehört, verbaut worden. Man betritt die deutlich interessantere 15 Meter hohe Markthalle nun durch einen von drei Nebeneingängen, in die jene für Kiew typischen Kioske eingebaut sind, in denen man Zigaretten, Alkohol und frisch gebrühten Kaffee bekommt. Dadurch übersieht man fast die Motive landwirtschaftlichen Lebens, die über den Toren und im Gatter verarbeitet sind.

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

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Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Mich erstaunte und faszinierte der Kontrast zwischen kapitalistisch überprägtem ursprünglich vom funktionalistischen Jugendstil geprägtem Äußerem mit enorm viel, entgegen jeglichen Denkmalschutzvorgaben, applizierten Werbetafeln sowie dem Einbau eines Billa-Supermarktes an der Vorderfront einerseits und noch sehr an sowjetische Zeiten erinnerndem Inneren mit original erhaltenen Schildern der Warengruppen und dörflich wirkenden Verkäuferinnen andererseits, dabei vor allem das Gefühl, dass von letzterem gerade das Authentische bald verschwinden wird, sobald der erste Marketingfachmann westlicher Prägung den Auftrag bekommt, die Halle zu „modernisieren“. Das Flair ist eben je nach Sichtweise so wunderbar bzw. furchtbar altmodisch, weshalb aber eben vielleicht die Kunden ausbleiben. Genau das wäre der große Fehler: Zu glauben, dass die Halle durch eine Modernisierung für Kunden attraktiver würde. Wer in einem modern gestalteten Markt einkaufen will, geht ins benachbarte Arena Center, oder zu Billa und ergänzt den Einkauf für bestimmte Waren hier. Zwar erstaunte die mangels Kunden recht schläfrige Atmosphäre, aber zu anderen als den aktuell kriegsbedingt schwierigen Zeiten ist die Lokalität durch ihren zentralen Standort gerade für Touristen sehr attraktiv. Die werden freilich eher wenig übliche Marktprodukte kaufen, sondern nur Atmosphäre aufsaugen wollen.

Die rund 360 Verkaufsstände sind nach Warengruppen aufgeteilt. Am Südeingang, der sich gegenüber des sehenswerten und von vielen Touristen besuchten Pinchuk Art Center befindet, stößt man sicherlich nicht zufällig auf eine Kaviarverkäuferin, die den Westler großzügig probieren lässt, auf dass er sich zwischen der kleinen schwarzen oder der saftigeren, größeren, aber eher unbekannten rötlichen Variante entscheidet. Dankbar für das originelle Mitbringsel zahlt er vielleicht tatsächlich angemessene, dennoch teure 12 Euro.

Nebenan, an diesem strategisch guten Standort beginnt die Wurstabteilung, bei der ein ähnlicher Impuls seine Wirkung zeigt. Bei mir jedenfalls (aber ich habe widerstanden).

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Abteilung für Frischfleisch ist dagegen nichts für Nasen und Augen, die von westlichen Hygienestandards verwöhnt (oder soll man sagen entfremdet?) wurden. Und man kommt ja auch nicht, um sich sein Schaschlick selbst zuzubereiten. Dafür wird hier, jedenfalls wenn man nicht allzu zart besaitet ist,  die Neugier auf Fremdes und Befremdliches befriedigt. Und was die Hygiene angeht: Der Markt ist sehr sauber.

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Ähnlich authentisch sind die Stände der Verkäuferinnen von Eingemachtem und Eingelegtem, direkt nebenan. Nimmt man sich Zeit und schaut, was es da so gibt, bekommt man einen sehr direkten Einblick in das Leben der Menschen

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Für Westler weniger interessant, dafür für Ukrainer seit der Unabhängigkeit und den neuen Importmöglichkeiten sicherlich am attraktivsten, sind die Stände für Obst, die nun auch durch exotische Früchte ergänzt wurden. Beim Gemüse finden sich dagegen wenig Überraschungen – bis auf die Gurken mit Blütenresten, was ich noch nie gesehen hatte.

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

An diesem Stand eines usbekischen Händlers kann man sich als Städte  bereisender Fremder tatsächlich aus einer breiten Auswahl an getrockneten Früchten, Nüssen und Süssigkeiten die eine oder andere Tüte Mitbringsel packen lassen, wird dann allerdings auch mit frustrierend gepfefferten Preisen aus der Illusion geholt, hier ein Schnäppchen machen zu können. Wie konnte ich bloß vergessen, dass hier jedenfalls zu feilschen ist? Später höre ich von dem fast schon sprichwörtlichen Ausdruck „Oh, das ist ja so teuer wie beim Bessarabska Markt“.

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Neben den dominanten Warengruppen mit jeweils vielen Ständen gibt es am Rand der Halle auch einzelne Anbieter von Spezialwaren wie Fisch, getrockneten Kräutern und Gewürzen oder Blumen.

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Einen Tag nach dem Besuch des Bessarabska Marktes sah ich ihn durch den Vergleich mit der Zytnij-Markthalle im historischen Hafenvorort Podil durch andere Augen: Der Markt hier ist deutlich teurer und besser ausgestattet, jedenfalls was die Existenz von Kühlregalen angeht. Aber beide haben ihren Charme, befriedigen das Bedürfnis des Westlers nach Existentiellem und ungeschminkt Authentischem und ergänzen so nicht nur das Bild der Stadt, sondern lassen einen deren über den Wandel der politischen und ökonomischen Verhältnisse kaum veränderte Identität spüren.

Gerne hätte ich mich nach einer Stunde des Bummelns und Stöberns in einem Café niedergelassen, um weiter dem Markttreiben zuschauen zu können und meine frisch erworbenen Tüten im Rucksack zu verstauen, aber leider gibt es in der Halle nur aus Kiosken Becher mit Instantkaffee zum mitnehmen. Im Linas Caffe an der Ecke der Vorderfront des Marktes befindet man sich freilich wieder in einer anderen Welt: Der des Turbokapitalismus am Krestschatyk Boulevard, dem Einkaufszentrum Metrohrad unter dem Platz, in dem man Geschenke, Kleidung, Souvenirs und Unterhaltungswaren bekommt und nahebei dem Mandaryn Plaza.

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Von der Rückseite des Marktes sieht man den architektonischen Aufbau der Kuppel (was auch immer die drei Leute dort oben zu tun haben):

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

Auf dem Platz, auf dem die Halle steht, befand sich im 19. Jahrhundert einer von damals sieben offenen Märkten: jenem der Händler aus einem damals Bessarabien genannten Landstrich im Süden des Landes am Schwarzen Meer (heute Moldawien), die dort vor allem Melonen, Auberginen, Obst, Wein und was sie sonst so herangekarrt hatten, verkauften. Dieser Name blieb bis heute. Die Waren und Händler haben mit dieser Geschichte nichts mehr zu tun. Damals war den Stadtoberen allerdings gerade dieser Markt wegen der schlechten hygienischen Bedingungen ein Dorn im Auge, weshalb sie 1904 gerne das Angebot des millionenschweren „Zuckerbarons“ Lazar Brodskij annahmen, der 500.000 Rubel für eine Markthalle spendete. Umgesetzt wurde der Bau, der ursprünglich auch ein Restaurant und eine Herberge für Bauern beinhaltete, ab 1908 vom Warschauer Architekten Henrik Gai. Die Wendeltreppen und Fischtanks wurden während der Sowjetzeit entfernt. Und auch die Figur des Erzengels Michael oben an der Fassade wurde durch eine Uhr ersetzt.

Trotz vieler Bedrohungen, wie einem Plan, ihn abzureißen und hier eine Kunstgalerie zu errichten, hat der Markt schon 103 Jahre überlebt. Ich wünsche ihm viele weitere. Täglich von 8 – 18 Uhr.

Homepage des Marktes

Verwendete Quellen: Gerlach, Thomas/ Schmidt, Gert: Die Ukraine entdecken, Berlin, 9. überarb. Aufl., 2007, S. 254, 491; Kopylova, Anna/ Pavlychko (Hg.): Awesome Kyiv, Kiew, 2015, S. 34f; Life in Kiev: Besarabsky Market; Schäfer, Günther: Kiev. Rundgänge durch die Metropole am Dnepr, Berlin, 3. akt. Aufl. 2011, S. 47f;

Eine Liste europäischer Lebensmittelmärkte mit einigen links u.a. auf diesen Post findet sich auf dem Blog von Askan: Food & farmers’ markets of the European capitals (22.02.2015)

Die Bessarabska-Markthalle_Kiew © Ekkehart Schmidt

From → Kiew, Märkte, Reisen

7 Kommentare
  1. Wow, ein toller Post mit vielen schönen Fotos. Und eine gute Einführung in die Markthalle. Der Post ist nun auch in meiner Liste verlinkt: http://askan.biz/2015/02/22/food-farmers-markets-of-the-european-capitals/

  2. Hallo! Wie hat es Ihnen geklappt, die Fotos zu machen? Soviel ich weiß, Fotografieren drin ist verboten. Meine Gäste konnte da kein Foto machen, die Leute haben uns das verboten 😦

    • Davon wusste ich nichts, ich war einfach sehr lange da und habe dann auch so fotografiert, dass ich niemanden störe. Es war aber auch ruhig, ohne Touristen. Wenn zu viele da sind, würde ich ihnen auch sagen: Bitte nicht fotografieren 😉

      • Wir waren nur zu weit. Claudia hatte eine gute Kamera. Wir haben uns sehr bescheiden benommen, trotzdem hat man uns bemerkt und geschriene: man darf nicht fotografieren!!!

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