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Café Inès_Düdelingen

April 23, 2016

Diddeleng_Quartier_Italien_A_800

Solch ein Viertel sucht seinesgleichen in Mitteleuropa. Zwar wurde seit einem Jahrzehnt viel saniert, aber man kann im „Quartier Italien“ noch ahnen, wie das war, als sich hier zugewanderte italienische und deutsche Stahlarbeiter in einer Weise einen Wohnort bauten, als läge dieser Hügel in der Cinque Terre oder in Kalabrien. Hoch über dem Stahlwerk von Düdelingen und zugleich unterhalb der Erzminen und Schlackehalden wuchsen entlang zweier Parallelstraßen Wohnstrukturen in aus Italien bekannter Terrassenbauweise, die mittels Durchgängen und steilen Treppen verbunden wurden.

Vergangenen Sonntag war ich im Rahmen einer etika-Radtour erstmals hier und entdeckte das Café Inès, das mich so interessierte, dass ich gleich zwei Tage später in der Mittagspause zurückkam. Es ist eins von drei verbliebenen Lokalen in einem Viertel, das vor einem Jahrhundert 30 Lokale aufwies. Ein Ort des immateriellen Kulturerbes der Migration also an diesem berühmtesten Ort der Zuwanderung eines Landes, in dem längst die Hälfte der Bewohner außerhalb geboren wurden. Ein soziales Kulturerbe und zugleich ein Café, das den fundamentalen Wandel der Bewohnerschaft repräsentiert. Auf den Schildern heisst es Inês, aber das muss grammatikalisch eigentlich Inès heissen…

„Klein Italien“ oder „Italia“, wie das Viertel – wohlgemerkt – offiziell heißt, bestand 1909 aus 100 Häusern, in denen 1589 Menschen in sehr beengten Verhältnissen lebten (zum Teil teilten sie ihre Betten entsprechend des Schichtdienstes), sagt uns Jos Thill bei einer Führung. Hier lebten zehn Nationalitäten, dominant waren aber die Italiener (65%), Luxemburger (19 %) und Deutschen (12 %). 2009 gab es 140 Häuser, aber nur noch 720 Bewohner aus 20 Nationalitäten, davon nur noch 4 & Italiener und 22 % Luxemburgern (incl. Eingebürgerter), aber 64 % Portugiesen. Das Viertel müsste man also eigentlich in „Lusitania“ umbenennen. Zwischenzeitlich änderte sich die Herkuftszusammensetzung aber deutlich: Lebten hier 2005 noch Menschen aus gut 20 Ländern, sind es heute 40.

Außerhalb Luxemburgs kennt man den Namen Düdelingen (luxemburgisch Diddeleng) seit 2012, aber aus einem ganz anderen Zusammenhang: Damals düpierten die Fußballzwerge von F91 Düdelingen das Millionen-Team von Red Bull Salzburg bei der Qualifikation zur Champions League und degradierten es mit ihrem Sieg zu „Europas Lachnummer“, wie DIE ZEIT schrieb.

Das auch „Klein Italien“ genannte Viertel „ist ein einzigartiger Erinnerungsort, der es ermöglicht die Rolle der Migrationen für die Landesgeschichte des Grossherzogtums zu verstehen“, schreibt das Dokumentationszentrum über Migration (CDMH), das Mitte der 1990er-Jahre im 1897 entstandenen Bahnhof Dudelange-Usines am Fuß des Viertels angesiedelt wurde. Grundidee der Gründung war die der Schaffung eines „Museums ohne Mauern“, welche das Museum in enge Verbindung mit dem Viertel setzt. Jos Thill arbeitet ehrenamtlich für das CDMH und erzählt uns die Historie, seitdem hier 1884 ging der erste Hochofen in Betrieb ging.

Obschon sich die luxemburgische Bevölkerung von 1880 auf 1890 verdoppelt hat, reicht sie allein nicht aus, um der riesigen Nachfrage an Arbeitskräften in der Eisen- und Stahlindustrie nachzukommen. Daraus ensteht eine massive Immigration von Gastarbeitern. Erst sind es Deutsche, Belgier und Franzosen aus den angrenzenden Gebieten die sich in Luxemburg niederlassen, dann Polen und Italiener. Letzte lachten zunächst nur einen geringen Teil der Immigranten aus: 1890 erfasst Düdelingen 5091 Einwohner, davon nur 2% Italiener, aber 20% Deutsche (Immigranten aus den an Deutschland angeschlossenen Gebieten Elsass und Lothringen einbegriffen). Ein altes Foto im Archiv des CDMH zeigt eine Gastwirtschaft namens „Cafe Capellari“ in den 1950er-Jahren, aus der später eine Kirche für Deutsche wurde.

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Betritt man heute das Viertel durch die „Porte d’Italie“ genannte Unterführung unter einer Schlacke-Transportlinie, kommt man an der gleichnamigen Bushaltestelle vorbei, ehe sich mit dem Café Ines das erste Zeichen öffentlichen Lebens offenbart. Da uns zu diesem Ort der Kommunikation bei unserem Rundgang nichts erzählt wurde, kam ich letzten Dienstag erneut hierher.

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Das Café ist Sitz eines Tischfußballclubs und der „Academia do Bacalhau“, einem ursprünglich in Südafrika gegründeten Verein, den es heute in der ganzen lusophonen Welt gibt. Die Mitglieder eint die Liebe zum Kabeljau, jenem mystischen Fisch in der portugiesischen Kultur, für den es 365 Zubereitungsarten geben soll. Genau: Für jeden Tag eine andere. Jährlich im August finden entsprechende Degustationen statt. Bei meinem Besuch entschuldigte sich Inês Afoso, die Inhaberin des Lokals und Mitglied des Vereins, der hier seit Jahrzehnten seinen provisorischen Sitz hat, dass sie mir durch starken Besuch der letzten Tage heute zum Essen nur ein Weißbrot mit kräftigem portugiesischem Käse anbieten könne. Kein Problem: Das war sehr lecker.

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Die 1953 in Montalegre im extremen Norden Portugals geborene, herzliche Frau steht stellvertretend für den Wandel der Bewohnerschaft des Viertels von italienischer zu portugiesisch-kapverdischer Dominanz. Im September 1973 war sie nach Luxemburg gekommen, kam dann sehr schnell hier ins Viertel und blieb seitdem, obwohl sie eigentlich bald wieder zurück nach Portugal wollte. Zunächst blieb sie zu Hause, arbeitete dann zwei Jahre in einer Patisserie im Stadtzentrum, weitere zwei Jahre in einer Fabrik, blieb weitere fünf Jahre zu Hause, ehe sie in den 1980er-Jahren begann, bei der italienischen Inhaberin des „Café Lidia“ auszuhelfen. Nach neun Jahren Existenz verkaufte diese das Lokal und Inês übernahm es. Das Lokal war damals noch überwiegend von Italienern frequentiert, neben einigen Portugiesen und Spaniern. Ein Foto und ein Gemälde ihrer Heimatstadt hängen im Lokal. Neben Fotos, die sie mit ihren zwei Söhnen zeigen.

Ansonsten fallen die vielen Pokale auf: Trophäen des Tischfußballclubs „Les Bons Amis de Dudelange“, die hier bislang dienstags und donnerstags trainierten, ehe am Wochenende Wettbewerbe auf de Programm standen. Sie seien heute nicht mehr so erfolgreich, erzählt mir Ines, die auch als Präsidentin des Vereins tätig ist. Es gibt auch keinen einzigen Glücksspielautomaten, wie sonst leider sehr üblich. Überhaupt wirkt das Café auf mich eher wie ein Ort, an dem sich vor allem portugiesische Frauen aufhalten.

Café Ines_Dudelange © Ekkehart Schmidt

Zurück zu Hause fiel mir ein Artikel über das Café aus dem Jahr 2009 in die Hand, in dem auch das Porträt der Inhaberin in einem der grossformatigen Bildbände der Aussstellung „Retour de Babel“ von 2007 erwähnt wird. Und tatsächlich fand ich sie dort:

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Es war spannend, dort ihre sehr ausführlich geschilderte Lebensgeschichte zu lesen. Ich komme sicher sehr bald zurück, vielleicht kann ich dann auch einmal Bacalhau essen. Wer weiß, wie lange es das Café noch geben wird. Inès machte so eine Andeutung, dass es bald gut sei nach 43 Jahren hier und 23 Jahren im Lokal (es stimmt also irgendetwas nicht in den Angaben oben, wieso nur 23 Jahre? Es müssten doch 27 sein. Das muss ich noch erfragen).

Gerne würde ich auch mal abends draußen in der Abendsonne sitzen, wenn sich mit Blick auf die Gebäude der ehemaligen Walzstraße vielleicht das eine oder andere Gespräch unter Nachbarn ergibt. Aber das scheint nicht mehr so zu sein wie früher, als man sich vor den Türen traf und manch einer eine Flasche Wein zum Erzählen mitbrachte. Und dann wollte ich auch unten an den Ruinen der alten Walzstraße gucken, was sich bei den Graffitis getan hat, die ich vor einem Jahr fotografiert habe.

Nachtrag vom 19. Januar 2022: Das Lokal existiert noch. Die geplante Rekonversion der alten Industrieanlagen zu einem Wohnviertel für Menschen höheren Einkommens wird jedoch auch „Italie“ verändern. Zunächst einmal wird sich die kritische Masse an Konsumenten erhöhen, welche die hiesigen Angebote nutzt oder neue initiiert. Aber das wird das Viertel auch soziokulturell beeinflussen, wie in einem aktuellen Text im „Land“ vermutet wird.

Verwendete Quellen und Inspiration: CDMH: Die Industrialisierung Düdelingens, ohne Datum; CDMH: Klein-Italien, ohne Datum; Clarinval, France: Un coin de mémoire, Letzebuerger Land, 07.01.2022; Reuter, Antoinette: Migration, ein neu entdecktes historisches Erbe, in: Le gouvernement du Grand Duché de Luxembourg (Hg.):  Kulturführer Luxemburg, Band 1, S. 294-303 sowie Band 2, S. 170f; Meinbach, Sebastien: Le pari du vivre Ensemble, Le Jeudi, 27.05.2010; Osorio-König, Stefan: Die Immigration der Italiener nach Luxemburg. Auf der Suche nach Abenteuer in der Ferne, Tageblatt, 02.02.2009; Tageblatt (Hg.): Am Quartier Italien, Supplément du Tageblatt, Numéro 1 du 24.09.2009 (insbes. „Bienvenue au ‚Café Ines'“, S. 4, Numéro 2 du 18.03.2010; Trindade, Elsa/ Scherrer, Claudine: À la commune de Dudelange, on m’appelle Madame Afonso!, in: Retour de Babel: Itinéraires, Mémoires et Citoyenneté, Luxemburg 2007, S.215-221.

Café Inès_Dudelange © Ekkehart Schmidt

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