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Bettsäächer

April 23, 2018

Seit Frühlingsbeginn pflücke ich fast täglich seine Blätter als Salatbeigabe, gestern wurde mir an der Anlegestelle des Ruderclubs Saar nochmal die anarchische Kraft dieser robust überall ausdauernd überlebenden Pflanze bewusst, ehe ich heute meine Freude an tausendfach von ihr besiedelten Wiesen neu erlebte – weil ich diese nicht nur farblich wie ein Echo der endlich wiederkehrenden Sonnenenergie empfand. Ein so intensives Gelb gibt es in der Natur selten.

Bettsäächer © Ekkehart Schmidt

Bettsäächer © Ekkehart Schmidt

Und ähnlich an der Uni Witten-Herdecke ein paar Tage später:

Bettsäächer © Ekkehart Schmidt

Oder auf einem Pferdehof in Walhausen:

Löwenzahn (c) Ekkehart Schmidt

Der Löwenzahn ist wohl eine derjenigen Pflanzen, die jede*r kennt und die dadurch fasziniert, dass sie nicht nur schön ist, sondern sich auch sehr weit verbreitet, bis tief in die Städte hinein, in die letzte Betonritze. Vielleicht sind es diese Eigenschaften, die sie zu einem Symbol ungebremsten Freiheitsdrangs und Durchsetzungsvermögens machen, jedenfalls für mich, viele Kinderbücher und die Erfinder der berühmten gleichnamigen TV-Wissenssendung mit Peter Lustig. Und sie ist Symbol für unsere Entfremdung von der Natur, denn: Löwenzahn ist „kein Unkraut, er benimmt sich bloss so„, wie Stefanie Flamm für DIE ZEIT schrieb.

Weil die krautige Pflanze in allen Teilen einen weißen Milchsaft enthält, dachte ich als im Kölner Raum aufgewachsenes Kind, man könne sie nicht essen. Aber wir haben ein wenig mit dem röhrenartigen Schaft experimentiert, ob man sie nicht als Tröte benutzen kann. Und natürlich später die Samen der zur Pusteblume verwandelten Blüte mit ihren kleinen Fallschirmen weg gepustet.

Auch die Ästhetik ihres Wuchses ist faszinierend: Die Blätter stehen dicht in einer Rosette, aus deren Mitte in den ersten warmen Apriltagen schnell eine oder mehrere Stengel mit der gelben Blüte hervorwächst, die auf mich wirken wie eine definitive Nachricht: Der Frühling ist da! Für Bienen übrigens genauso. Die schnell überall wuchernde Pflanze ist für deren erste Nektarernte enorm wichtig.

Bettsäächer © Ekkehart Schmidt

Bettsäächer © Ekkehart Schmidt

Ich wurde freilich davon geprägt, sie als „Unkraut“ zu sehen, wohl wegen ihrer wuchernden Eigenschaft – bis ich vor ein paar Jahren meine erste Kräuterwanderung mitmachte. Dabei lernte ich, dass sich die gelben Blüten zur Herstellung eines wohlschmeckenden, honigähnlichen Sirups, von Gelees (frz.: cramaillotte, mit Orange, Zitrone und Zucker) als Brotaufstrich, für eine spezielle Butter und sogar als Wein verwenden lassen. Wurzel und Kraut werden auch als Tee, Presssaft, Smoothie oder Pulver verwendet. Die Knsopen lassen sich als mitteleuropäischer Kapernersatz einwecken.  Die jungen, nur leicht bitter schmeckenden Blätter mit hohem Gehalt an Kalium sowie Vitamin A und C können auch als Pesto, vor allem aber als Salat verarbeitet werden.

Das ist doch eine Lösung für die manchen doch sehr störende Invasion von Gärten und Balkonen: Man kann den Usurpator einfach wegessen!

Aufgrund seiner harnfördernden Wirkung wird Löwenzahn hierzulande auch Bettsäächer genannt. In anderen Regionen gibt es ähnliche mundartliche Begriffe wie Bettnässer, Bettpisser, Bettschisser, Bettseecher, Pissblume (Holländisch: pissebloem), Pisser, Pissnelke und in Frankreich pissenlit. Der Salat ist außerhalb des Saarlandes am ehesten als „Bettseichersalat“ bekannt. Mit einer Speck-Rahmsauce gilt er als Delikatesse.

Die Wurzel kann ebenfalls als Salat verarbeitet oder gekocht werden. Vor allem im Herbst wird sie getrocknet und geröstet oder gemahlen – in den Nachkriegsjahren wurde so ein verdauungsfördernder Ersatzkaffee hergestellt (Zichorienwurzelersatz). Diese Praxis scheint heute wieder im Kommen zu sein. Löwenzahn dient ebenfalls als Tiernahrung. A propos Nahrung: Dass man ihn auch als Mensch essen kann, habe ich so richtig erst von den saarländischen Großeltern meines ältesten Sohnes gelernt.

Die jungen, nur leicht bitteren und an Rucola erinnernden Blätter, werden im Frühjahr geerntet – am besten vor der Blüte, heißt es. Egal: für mich entscheidend ist der Jäger- und Sammlertrieb, dem nachzugehen eine so hohe Befriedigung bringt. Er wächst ja im April überall wild: Auf meinem Balkon, im Garten, vor der Tür, am Radweg und im Stadtpark. Es ist enorm befriedigend, seine Lebensmittel nicht als Konsumprodukt zu kaufen, sondern selber der Natur zu entnehmen.

Wer wilden Löwenzahn pflücken möchte, sollte ihn wegen der hohen Schadstoffbelastung aber nicht an befahrenen Straßen oder auf frisch gedüngten Wiesen und Feldern sammeln. Aber kein Problem: Wer daran keinen Spaß oder Angst vor Hundepippi und Autoabgasen hat, findet Löwenzahn zur Erntezeit auf fast jedem Wochenmarkt, jedenfalls im Saarland. Er wird hier nämlich sogar von Bauern angepflanzt wird. In Bioqualität: In Teil 2 der neuen SR-Reihe „Saar nur“ wird im ersten Beitrag „Wie viel Arbeit steckt in der regionalen Landwirtschaft?“ nicht nur gezeigt, wie aufwändig und teuer das ist, sondern auch, dass es dafür hierzulande tatsächlich einen Markt gibt.

Bettsäächer © Ekkehart Schmidt

Zutaten:
500 gr. Löwenzahn
1 Zwiebel
1 Knoblauchzehe
1 EL Senf
120 ml Sahne
100 gr. Dürrfleisch
1 große gekochte Kartoffel

Auf kochbar.de fand ich dieses Rezept:

„Den Löwenzahn mehrmals gut waschen und abtropfen lassen. Die Kartoffel durch ein Sieb drücken oder ganz fein stampfen. Das Dürrfleisch in kleine Würfel schneiden und in einer Pfanne auslassen. Das Dressing wird aus Öl, Essig, Senf, Sahne, Prise Zucker, Salz, Pfeffer, Maggi und den gewürfelten Zwiebel und Knoblauch zubereitet. Die zerkleinerte Kartoffel mit in die Sauce geben und dann mit dem Löwenzahn vermengen. Zum Schluss das Dürrfleisch über den fertigen Salat geben. Ca. 5 Minuten durchziehen lassen, dann kann serviert werden.“

Ich kenne das von Oma Jaqueline vom Mittagessen in Wiebelskirchen eher ohne Kartoffeln, stattdessen mit in Würfel geschnittenen gekochten Eiern, wie es auch ein Rezept bei kochmeister.org beschreibt. Und ob die Sahne sein muss? Nur für diejenigen, denen der bittere Geschmack zu dominant ist – dann hilft eine Kombination mit anderen Zutaten wie Kartoffeln, Äpfeln oder Schmand im Dressing. Ich nahm anfangs schlicht einfach einen Becher Joghurt, aber dann setzte sich als echter, ungedämpfter Bittergenuss die ganz simple Variante mit Salz und gutem Olivenöl durch. Und reiße die langen Blätter in kleinere Teile (wie ich sie auch gerne ganzjährig mit anderen Kräutern vom Balkon in einen normalen Blattsalat beigebe).

Bettsäächer © Ekkehart Schmidt

Bettsäächer © Ekkehart Schmidt

Wer die Bitterstoffe unbedingt abdämpfen will, kann die Blätter fein geschnitten oder in Salz eine Stunde in warmem Wasser ziehen lassen. Wegen seiner speziellen Bitterstoffe sowie Terpene, als wohl wichtigsten Wirkstoffen der Pflanze, wird Löwenzahn im Frühjahr gerne zur Entgiftung gegessen, wenn es um die Leber, die Blutreinigung sowie das Bilden und Fließen von Galle geht. Sie helfen beim Abtransport von Stoffwechselprodukten aus dem Körper.

Diese Nutzung des vermeintlichen Unkrauts und die Bewahrung traditionellen Kräuterwissens bereitet sehr viel Freude und gibt kulinarisch und emotional Lebensenergie.

Bettsäächer © Ekkehart Schmidt

Bettsäächer © Ekkehart Schmidt

A propos Lebensfreude und Resilienz – Anfang Mai 2021 liefen uns am St. Johanner Markt zwei junge Frauen mit einem Haarkranz aus Löwenzahn über den Weg. Hier eine weitere Entdeckung aus der späteren, absonderlichen Corona-Zeit  auf einem seit Monaten ungenutzten Sportplatz in Steinbach bei Ottweiler:

Und im April 2022 auf dem Bockfelsen in Luxemburg:

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Wer Löwenzahn dennoch nicht in seinem Rasen haben möchte: Die Pflanze muss bis auf das letzte Fitzelchen Wurzel ausgestochen werden, sonst wächst er wieder. Das ist legitim, schliesslich verdrängt die Pflanze als guter Nährstoffverwerter Blumen und Wildkräuter von Weiden und Wiesen, manchmal sogar das Gras. Bevor man sich als „Rasenspiesser“ da dran macht, sollte man also nicht nur lernen, was für leckere Sachen man aus ihm machen kann, sondern auch den Hinweis beachten, dass Löwenzahn eine „Zeigerpflanze“ ist: Sie deutet auf stickstoffreiche Böden hin. Vor allem deshalb sind überdüngte Viehweiden voll davon. Er kommt aber auch mit jedem anderen Boden klar.

Und dann… kommt natürlich die Pusteblumenzeit, hier an der Nahequelle:

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Verwendete Quellen: Eberle, Traudi/ Schroebler-Beck, Dagmar: Kräuterzauber. Rezepte mit Wildkräutern aus Wald, Wiese und Garten, Aichach 2012, S. 52 -56; Flamm, Stefanie: Auf dem Boden der Tatsachen: Löwenzahn, Die Zeit, 29. April 2021; Fleischhauer, Steffen Guido/ Guthmann, Jürgen/ Spiegelberger, Roland: Essbare Wildpflanzen, München, 11. Aufl. 2012, S. 156f.; Oeing, Kristin: Wildes Bio, in: Bioboom; Saager-Kraus, Brigitte: Grüne Kraft: Detox-Kräuter, in: Schrot&Korn 04/2017, S. 46-47; Rousselange, Ruth: Wie man Löwenzahn das Fürchten lehrt, in: Saarbrücker Zeitung, 30. April 2018; Wikipedia-Artikel „Gewöhnlicher Löwenzahn“ und die oben direkt verlinkten Rezepte und der SR-TV-Beitrag.

Bettsäächer © Ekkehart Schmidt

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