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Schwartz’s_Montréal

Mai 16, 2016

Montréal bietet weit mehr als den historischen Hafen am Sankt-Lorenz-Strom und eine City aus Skyscrapern: In den Vierteln im Norden, vor allem zwischen der rue St. Denis, dem Boulevard St. Laurent und dem Boulevard Mont Royal finden sich gut erhaltene hundertjährige Quartiere mit langer Geschichte. Der Boulevard St. Laurent war einst die Trennlinie zwischen den französischen und britischen Stadtteilen. Zwischen beiden entstand unter anderem Chinatown und das jüdische Viertel. Der Boulevard war die „Main“, die lebendige Hauptstraße dieses von 1880-1950 größten jüdischen Viertels in Kanada. Ab 1880 waren viele vor den Pogromen in Russland geflohen. Die Bevölkerung stieg kontinuierlich bis 64.000 im Jahr 1941. Die meisten waren in Schneidereien und der Bekleidungsindustrie tätig, die rund um den Boulevard entstanden war. Hier fand sich die größte Konzentration des Gewerbes in ganz Kanada. Es gab natürlich auch Zeitungen, Buchhandlungen, Synagogen und Restaurants. 1928 entstand hier ein Lokal, das nicht nur eine ganz besondere Spezialität bietet, sondern sich trotz seines Ruhmes bis heute kaum verändert hat. Die Authentizität der Atmosphäre ist heute freilich ein Geheimnis des Erfolgs.

Schwartz's_Montréal © Ekkehart Schmidt

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Schwartz's_Montréal © Ekkehart Schmidt

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Nachdem in den Nachkriegsjahren ein Großteil der Community in andere Stadtteile umzog, blieb das Schwartz’s als eines der wenigen genuin jüdischen – und als solches erkennbares – Lokal übrig und wurde später nicht nur eines der Symbole der Vergangenheit des Viertels, sondern zog auch Filmstars wie Burt Lancaster, Jerry Lewis, Celine Dion oder die Sängerin Nana Mouskouri an. Sogar Staatschefs sollen hier gespeist haben. Diese insofern ruhmreiche Geschichte wird in der Selbstdarstellung natürlich hervorgehoben: „World famous Schwartz’s, serving the best smoked meat from the original recipe of spices since 1928“. Insofern befürchtete ich letzten Dienstag, hier in eine „Tourist trap“ zu geraten, zumal die ganze Straße stark touristisch geprägt ist – aber immerhin eher ein Backpackertourism.

Schwartz's_Montréal © Ekkehart Schmidt

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Durch eine enge und unscheinbare Metalltür betritt man dann tatsächlich eine andere Welt, sehr authentisch wirkend und seltsam vertraut: Da verschwimmen im Auge des Europäers Bilder aus amerikanischen Kinofilmen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts miteinander, mit Elementen wie den Ketchup- und Senfflaschen sowie Coca Cola-Dosen vor weißen Fliesen, aber auch den weiß gekleideten Kellnern mit roter Aufschrift in dieser so typisch-amerikanischen Schrift der 1940er-Jahre. Interessanterweise findet sich dieses markante Logo nicht an der Fassade: Dort hat man die Kopie eines Originalschildes von vor fast 90 Jahren befestigt. Ein halbes Dutzend schmaler Tischreihen à acht Plätzen reihen sich hintereinander. Dazu gibt es eine lange Theke.

Schwartz's_Montréal © Ekkehart Schmidt

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Schwartz's_Montréal © Ekkehart Schmidt

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Schwartz's_Montréal © Ekkehart Schmidt

Schwartz's_Montréal © Ekkehart Schmidt

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Wenngleich es hier sicher auch andere jüdische Spezialitäten wie „Knishes“ (gefüllte Teigtaschen), „Latkes“ (Kartoffelpuffer) oder „Suppe mit Matzeknödeln“ gibt, bestellte ich natürlich ein „Sandwich“ mit smoked meat, dazu eine Portion French fries. Als jemand der seit Jahren nur noch gelegentlich Biofleisch ist, wusste ich, dass ich hier „sündige“. Einen solch derben Fleischberg habe ich freilich nicht erwartet. Schon der erste Bissen dieses saftigen und würzigen Fleischs, das einem ohne Kau-Aufwand im Munde zergeht, weckte allerdings eine Fleischeslust, der ich mich dann ohne Bedenken (und auch ohne Reue) hingab. Das erinnerte mich stark an meinen letzten Besuch in der Provinz Québec, als ich „Poutine“ ausprobierte, die ähnlich deftig, aber vor allem käselastig sind.

Der Kellner bediente sehr nett und in den Empfehlungen an den Wünschen der Kundschaft interessiert, dazu witzig. Er kennt das ja mit den Kunden, die einfach kommen, um etwas berühmtes zu erleben, ohne genau zu wissen, was es denn nun ausmacht. Neben dem Geschmack ist das natürlich, was er am Nachbartisch – sicher nicht zum ersten Mal heute – sagte: „Nothing changed, except for the Prices and the waiters“. Mein Sandwich kostete 9,60 CAN$, die Fritten dazu 3,25 CAN$, also 14,77 = etwa 10 EUR.

Schwartz's_Montréal © Ekkehart Schmidt

Schwartz's_Montréal © Ekkehart Schmidt

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Verändert ist freilich die Wand links: Viele Dutzend in Rahmen gefasste Zeitungsartikel, Zeichnungen und ähnliches, das Lokal lobpreisendes wurde hier aufgehängt. Das Fleisch wird wie gehabt ohne chemische Zusätze zubereitet. Natürlich gibt es ein Geheimrezept, demzufolge das Fleisch zehn Tage lang in Kräutern und Gewürzen eingelegt und täglich geräuchert wird.

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Gegründet wurde das Lokal an dieser unveränderten Stelle von Reuben Schwartz, einem jüdischen Einwanderer aus Rumänien. Damals gab es hier in der Nachbarschaft freilich noch keine funky und trendy Boutiquen, obwohl das Viertel durchaus wohlhabend war.

Schwartz's_Montréal © Ekkehart Schmidt

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Schwartz’s ist nicht das einzige Lokal der „Main“, das smoked meat bietet. Und smoked meat ist nicht die einzige kulinarische Innovation der Stadt: Einige hundert Meter weiter nördlich gibt es einige sehr alte Bagel-Bäckereien. In zweieinhalb Tagen Montréal habe ich mir dafür allerdings keine Zeit nehmen können. Mir ist da in Good Old Europe auch zuletzt zu sehr ein Hype um Bagels entstanden.

Was in Montréal eher etwas besonderes war und ist, war übrigens in New York in den 1920er- und 1930er-Jahren etwas ziemlich normales. Damals erlebten die „Delis“ (abgekürzt für „Delicatessen Restaurants“) einen echten Boom, als jüdische Einwanderer darin ihre bekannten Spezialitäten essen konnten. Damals gab es gut 1500 Delis in der Stadt, heute sind es nur noch etwa 15. Und heute ist ein „Deli“ eher ein kleiner Lebensmittelladen, in dem auch Sandwichs und kleine Speisen verkauft werden.

Am bekanntesten in New York ist wohl „Katz’s Delikatessen„, das dem 40 Jahre später entstandenen „Schwartz’s“ ähnelt. Es wurde bereits 1888 von einer russ. Einwandererfamilie in der Lower East Side gegründet, und wurde Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer Institution (u.a. hatten Harry und Sally hier ihr Date im gleichnamigen Kinofilm). Salate, Suppen, Gegrilltes und die legendären  Pastrami-Sandwiches ziehen Schauspieler und Staatsgäste an – was wie im „Schwartz’s“ zahlreiche Fotos an den Wänden bezeugen. Auch hier liegen das Flair vergangener Zeiten und die Anfänge der Burger-Kultur in der Luft.

Adresse: 3895 Boul St-Laurent, Montréal, QC H2W 1Y2, Kanada, Tel.: (514) 842-4813, Homepage

Verwendete Quellen: dpa: Sandwiches sagen Goodbye. New Yorker Bistro „Carnegie Deli“ hat geschlossen, in: Luxemburger Wort, 04.01.2017; Wikipedia-Artikel „Ancien quartier juif de Montréal“, Homepage des Lokals für das Foto des Regals innen und des Zerschneidens eines Schinkens.

Schwartz’s_Montréal © Ekkehart Schmidt

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